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Krieg in der Ukraine Die Blume – warum der russische Einbruch bei Otscheretyne die ukrainische Front ins Wanken bringt

Soldaten der 71. Brigade im Raum von Awdijiwka 
Soldaten der 71. Brigade im Raum von Awdijiwka 
© AP
Die Russen sind hinter die ukrainischen Verteidigungslinien gelangt und konnten eine Handvoll Dörfer besetzen. Wenn die ukrainischen Truppen nicht schnell einen festen Halt finden, kann der Donbass verloren gehen.

Nördlich von Awdijiwka hat Russland die ukrainische Kleinstadt Otscheretyne in einem Handstreich eingenommen. Möglich wurde das durch den überraschenden Abzug der 115. Brigade. Umstritten bleibt, ob der Vormarsch durch eine Terminverwechslung zustande kam oder weil die Brigade dem Kampf ausweichen wollte. Mit der Einnahme von Otscheretyne gelangten die Russen in den Rücken der ukrainischen Verteidigungslinien. 

Da sich Otscheretyne auf einem Hügelrücken befindet, beherrscht der Ort alle umliegenden Gebiete. Das lange umkämpfte Berdychi musste aufgegeben werden. Weiter südlich stoßen die Russen von Tonen'ke nach Westen vor, so dass sich die Ukrainer dazwischen in einer Art von Frontbeule wiederfinden. Im Norden von Otscheretyne das gleiche Bild, auch hier öffnen die Russen einen Sack zwischen Otscheretyne und Novokalynove.

Erdrückende Übermacht gegen die Ukraine

Es ist nicht nur der Unglücksfall von Otscheretyne allein. Die ukrainischen Streitkräfte im Donbass befinden sich in einer so kritischen Situation wie noch nie zuvor. Es beginnt bei dem viel zitierten Mangel an Artilleriegranaten. Das bedeutet, dass die Russen hinter der Front immer offener und ungehinderter agieren können. Sie bauen Rauchgeneratoren auf, um Bewegungen zu verdecken. Sie können ihre Artillerie ohne Angst vor Gegenfeuer einsetzen, darunter auch die gefürchteten thermobarischen Raketenwerfer. 

Den Mangel an Counter-Artillery versuchen die Ukrainer mit Himars-Werfern auszugleichen, mit dem Effekt, dass diese zerstört werden. Wie bei der Luftverteidigung ist das eine Spirale nach unten. Die unterlegene Seite erleidet immer höhere Verluste. Dazu kommen die Angriffe der russischen Gleitbomben, die den bisherigen Stellungskrieg unmöglich machen. Auch technisch legen die Russen nach. Immer häufiger setzen sie lasergesteuerte Präzisionsgranaten ein, neben den einfachen Explosionsbomben werden Gleitbomben mit Clustermunition eingesetzt.

Weniger beachtet wird der Mangel an schwerem Gerät. Die Eliteformationen Kiews wurden mit Leopard 2, Challenger und US-Panzer vom Typ Abrams ausgerüstet. Weil die schweren Panzer im offenen Gelände so verwundbar sind und wohl auch, um den westlichen Verbündeten die Blamage zu ersparen, sind sie kaum noch an der Front zu sehen. Abrams-Panzer sollen ganz abgezogen worden sein. Man kann es so übersetzen: Die schweren Panzerbrigaden Kiews haben keine Kampfpanzer mehr.

Mangel an Soldaten 

Dazu kommt der chronische Mangel an Personal auf Seiten der Ukraine. Die ausgedehnten Stellungssysteme im Donbass waren noch nie so eng besetzt wie die Gräben im Ersten Weltkrieg. Die Russen versuchen, eine entblößte Stelle zu finden, um sie mit einem kleinen Trupp zu besetzen. Dann kommt es zum Einsatz von Buggys, Motorrädern oder den Schildkrötenpanzern. In der Annäherung gibt es in der Regel Verluste, doch wenn die Russen in der Stellung sind, geschützt von ihren Drohnen und ihrer Artillerie, können die Ukrainer sie meist nicht mehr hinauswerfen, weil ihnen die Kraft und die Männer zum Gegenangriff fehlen. 

Das führt dazu, dass sich der russische Vormarsch beschleunigt. Zur Erinnerung: Die ukrainische Sommeroffensive verlief so zäh, weil die Ukrainer jeden Baumstreifen und jeden Graben fünf- bis achtmal erobern mussten, bis sie sich festsetzen konnten, weil sie jedes Mal von den Russen wieder zurückgeworfen wurden.

Russen überdehnen die Verteidiger  

Diese Faktoren führen dazu, dass ein Einbruch von nur wenigen Kilometern so gefährlich ist. Kiew fällt es schon schwer, 50 Mann für einen Gegenstoß an einem Ortsrand zusammenzubekommen; an eine große Gegenoperation, um den russischen "Zipfel" bei Otscheretyne abzuschneiden, ist gar nicht zu denken. Die Russen haben eine strategische Hauptstoßrichtung, doch derzeit greifen sie an, wo immer es möglich ist. Sie bringen den Einbruch zum Aufblühen, von der Form eines Zackens verwandelt er sich in eine Blüte. Die Idee dahinter ist es, die umkämpften Linien immer weiter zu verlängern, so dass die unterlegenen Ukrainer immer größere Schwierigkeiten haben, die Frontlänge zu halten. Auf etwa 30 Kilometer Länge rutscht die ukrainische Front. Derzeit sieht es nicht so aus, als würden die ukrainischen Truppen in der Nähe eine weitere Linie mit vorbereiteten Stellungen und frischen Reserven vorfinden.

Strategische Option 

Dagegen sollen die Russen zwei frische Brigaden mit etwa 10.000 Mann zuführen können. Behalten sie ihr Momentum, könnten sie versuchen, entlang der Hauptstraße H20 nach Norden vorzustoßen, um näher an die Stadt Kostjantyniwka zu gelangen oder sie sogar etwas weiter westlich im Rücken zu bedrohen. Wegen der Entfernung von beinahe 40 Kilometern wird das nicht in den nächsten Wochen geschehen. Doch strategisch könnte bei Kostjantyniwka die gesamte Donbassfront der Ukraine aus den Angeln gehoben werden. Kostjantyniwka gehört mit den Städten Slowjansk im Norden und Kramatorsk zur letzten Verteidigungslinie im Osten. Kiew muss auf jeden Fall verhindern, dass die Russen hinter diese Städtekette gelangen.

Das Perfide ist dabei, dass diese russischen Operationen am Ende der Winteroffensive bereits die Sommeroffensive vorbereiten. Wenn Kiew weitere Truppen in den Donbass schickt, um Putin dort aufzuhalten, werden sie anderenorts fehlen. Etwa, falls die Russen im Raum von Charkiw und Sumy zum Angriff übergehen. Dieses Szenario droht nicht unmittelbar. Schon die nächste Woche wird allerdings zeigen, ob die ukrainischen Verteidiger Stellungen finden, die ihnen Halt geben. Oder ob weitere Frontabschnitte ins Rutschen kommen.

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