Die Mängelliste des Friedrich Merz ist lang und gut dokumentiert – seine Aussetzer und Pannen sind schließlich Legion. Nur übersieht man über all die Erregung schnell das Verdienst des CDU-Chefs. Und das ist schon jetzt, egal wie man zur Union steht: historisch.

Merz übernahm die CDU kurz nach der schwersten Wahlniederlage ihrer stolzen Geschichte. Zu dem Zeitpunkt war längst nicht ausgemacht, ob sie sich jemals wieder erholen würde. Oder ob die CDU den Weg so vieler etablierter Parteien in Europa, Sozial- wie Christdemokraten gleichermaßen, geht – und einfach implodiert, von neuen populistischen Parteien überholt und auf Nimmerwiedersehen verschwindet.

Im Rückblick wirkt Geschichte oft wie eine selbstverständliche, ja unausweichliche Abfolge von Ereignissen. Das ist sie nicht. Die CDU war damals tatsächlich am Kippen. Nach den 24,1 Prozent bei der Bundestagswahl 2021 – man dachte, tiefer kann diese Partei unmöglich fallen – taumelte sie weiter führungs- und orientierungslos. Die Umfragen wiesen phasenweise nur noch 20 Prozent aus.

Der Staatsernst ist ausgebrochen

Die CDU lag nicht mehr auf der Intensivstation, sie war schon auf dem halben Weg zur Aussegnungshalle. Dass sie da nie ankam, sondern, im Gegenteil, zurückkehrte, seit bald zwei Jahren unangefochten vorn liegt, konstant bei 30 Prozent, und mit größter Wahrscheinlichkeit den nächsten Kanzler stellen wird, verdankt sie zuvörderst einem Mann: Friedrich Merz, dem Partei- und Fraktionschef.

Der Merz-Effekt ist messbar. Erst nachdem die Partei Ende Januar 2022 das Votum der CDU-Mitglieder offiziell bestätigt hatte, ihn zum Parteichef gewählt hatte, schwamm sich die CDU wieder frei, kam in den Umfragen erstmals nach Monaten wieder vor die SPD. Sie dominiert seitdem. Er baute erst die Fraktion um, dann mit einigen Anlaufschwierigkeiten die Parteizentrale, schrieb schließlich mit der Basis ein neues Grundsatzprogramm.

Auf dem CDU-Parteitag in Berlin hält Merz am Montagmittag eine gute Rede. Gut, eben weil sie ohne die erwartbaren Knallteufelchen daherkommt, sondern im Sound bürgerliche Vernunft trägt. Zu Beginn erinnert er an seinen verstorbenen Freund, Wolfgang Schäuble. Dessen Haltungsmaxime, der Staatsernst, hat nunmehr auch den Teilzeithallodri Merz erfasst.

Merz verurteilt die Angriffe auf Politiker in jüngster Vergangenheit, namentlich nennt er die Grüne Katrin Göring-Eckardt. "Wir alle müssen uns sagen lassen, dass wir den Rechtsextremismus jahrelang unterschätzt haben", sagt Merz. "Und zahlreiche Menschen haben diese Fehleinschätzung mit dem Leben bezahlt." Dieses Maß an Selbstkritik ist bemerkenswert, wagt die CDU Selbstkritik doch sonst nur, wenn es gerade opportun wirkt. Merz schwört seine Partei ein auf den Kampf gegen die AfD: "Gegen diese Kraft der Zersetzung werden wir uns mit aller Kraft, die uns zur Verfügung steht, zur Wehr setzen."

Merz im Glück – zehn Minuten Applaus

Vor einem knappen Jahr hatte Merz die CDU noch in Schock versetzt mit einem Lapsus in einem Sommerinterview, worin er zumindest die Deutung zuließ, er biete der AfD in den Kommunen eine Zusammenarbeit an. Je näher Merz an die Macht rückt, desto stabiler wirkt er, nicht nur im Umgang mit der AfD.

Freiheit ist der Schlüsselbegriff im neuen Grundsatzprogramm, das die CDU am Dienstag beschließen wird. Merz fächert ihn intellektuell durchaus schillernd auf. Er hält sich fern vom populären Schrumpfbegriff von Freiheit im Sinne des antigrünen Zeitgeists (Bleib mir weg mit deiner Wärmepumpe!), zitiert stattdessen den antiken griechischen Philosophen Thukydides: "Das Geheimnis des Glückes ist die Freiheit, das Geheimnis der Freiheit ist der Mut." Und erdet diesen luftigen Beitrag schließlich wieder in die Alltagsrealität der Menschen: "Unsere Gesellschaft ist vielfältig, das ist eine Folge des Lebens in Freiheit", sagt Merz.

Über diesen Zwischensprung landet er aus dem alten Athen schließlich bei der Leitkultur: "Gerade ein Land in Vielfalt braucht Gemeinsamkeit." So wird aus dem Kampfbegriff aus den Neunzigern mit Erregungsgarantie, zumindest in dieser Rede, einer der ausgestreckten Hand.

Nach knapp anderthalb Stunden weiß Merz gar nicht mehr wohin mit seiner Freude. Fast zehn Minuten lang klatschen die 1.001 Delegierten, lassen ihren Vorsitzenden nicht von der Bühne, jedes Mal, wenn er sich setzen will, brandet neuer Applaus auf. So glücklich hat man den CDU-Chef lange nicht gesehen. Er wirkt erleichtert, wie er da oben steht und in die Menge winkt, als sei ein riesiges Gewicht von ihm abgefallen. Mit knapp 90 Prozent wählt die Partei Merz kurz darauf erneut zu ihrem Vorsitzenden. Etwas weniger als noch vor zwei Jahren, aber ein gutes Ergebnis. Das ist zwar noch kein Vorentscheid zur Kanzlerkandidatur – aber eine deutliche Tendenz.

Die CDU hält den Ampelfrust in der Mitte

Andere haben mitgeholfen, dass sich die Union die K-Frage überhaupt wieder stellen darf, ohne sich völlig lächerlich zu machen. Die CDU ist – bei allen Friktionen und Kontroversen, die auch unter Merz nie verschwunden sind – erneut ein eingeschworener Kampfverband. Starke CDU-Ministerpräsidenten gewannen unter Merz' Ägide ihre Wahlen. Das gab der Partei die nötige Stabilität und Auftrieb. Erfolg bindet Loyalitäten. 

Das weiß auch Merz, der zu Beginn seiner Rede erst mal die jüngsten CDU-Wahlerfolge aufzählt. Und natürlich hat die Ampel mit ihrer Flickschusterei Merz eine Vorlage nach der anderen serviert. Doch man muss sie auch verwandeln.

In einer anderen Welt wäre der Ampelfrust vielleicht mal nach links gewandert. Oder die Wut wäre womöglich direkt und in Gänze über die Union hinübergeschwappt, nach ganz rechts außen zur AfD. Dass sich diese angesichts der permanenten Regierungskrise noch nicht längst zur Volkspartei aufschwingen konnte, ist auch Oppositionsführer Friedrich Merz zu verdanken.  

Merz hat die CDU gerettet, zumindest für den Augenblick (final gewogen wird am nächsten Wahltag). Er hat damit auch ein Stück der Republik bewahrt, die in diesen Tagen ihren 75. Geburtstag feiert. Glückwunsch!