Seit letztem Herbst gibt es in Chile massive Proteste gegen die Regierung. Sie richten sich gegen die Verfassung, die noch aus der Zeit der Militärdiktatur unter Pinochet stammt, gegen die Gewalt, die gegen die Demonstranten eingesetzt wird, und seit diesem Frühjahr auch gegen die Entscheidung, wegen der Corona-Pandemie die Abstimmung über eine neue Verfassung bis in den Oktober zu verschieben. Die Folgen der Militärdiktatur, die von 1973 bis 1990 dauerte, sind längst nicht bewältigt. Und die Dokumentarfilme von Patricio Guzmán deshalb auch höchst aktuell.

Dokumentarfilm als Kunst oder als Informationsmedium? Schönheit oder Politik? Gefühl oder Genauigkeit? All diese angeblichen Gegensätze löst der chilenische Filmemacher in seinem Werk auf. Nächstes Jahr wird er 80 Jahre alt. Das Ende der Militärdiktatur ist erst 30 Jahre her.

"Als ich jung war, habe ich mich nicht für die Anden interessiert: Meine Generation war damit beschäftigt, eine neue Gesellschaft aufzubauen. Und die Berge schienen uns nicht revolutionär." Dieser Satz, den der Regisseur in Die Kordillere der Träume aus dem Off spricht, formuliert in Negation genau das, was sein Werk in den letzten Jahrzehnten ausmacht: die Beschäftigung mit Natur und Politik. Immer geht es dabei um Chile.

Nachdem Pinochet durch den Militärputsch an die Macht gekommen war und er selbst für kurze Zeit im berüchtigten Stadion von Santiago gefangen gehalten worden war, floh Guzmán mit Anfang 30 aus Chile. Zunächst nach Kuba, dann nach Paris, wo er immer noch lebt. Die meisten seiner Filme aber beschäftigen sich weiterhin mit Chile – und wie die Natur des Landes untrennbar mit der Geschichte der Diktatur verbunden ist. In Nostalgie des Lichts erzählte er 2010 von der Atacama-Wüste, in Der Perlmuttknopf 2015 vom Meer, in dem das Militärregime die Leichen politischer Gegner versenkte. 

Die Kordillere der Träume ist das Finale dieser Trilogie. Hier geht es um die Anden als Gebirgskette (auf Spanisch: cordillera), die sich durch das ganze Land zieht. Sie isoliert Chile vom Rest Südamerikas, ist aber auch Schutz und "wie eine Mutterfigur, unverwüstlich", sagen die Gesprächspartner, die Guzmán für seinen Film befragt: der Maler Guillermo Muñoz, der Schriftsteller Jorge Baradit, der Bildhauer Vicente Gajardo, der Filmemacher Pablo Salas.

Jeder von ihnen hat mit den Anden oder mit der Erinnerung an die Militärdiktatur zu tun – oder mit beidem. Muñoz etwa malte die Kordillere für eine U-Bahn-Haltestelle in Santiago und lebt wie Guzmán seit Langem nicht mehr in seiner Heimat. Salas filmt seit den Studentenprotesten in den Siebzigerjahren die Demonstrationen in Santiago de Chile. Salas' Aufnahmen vor allem der damaligen Demonstrationen, die Guzmán immer wieder zeigt, zählen zu den eindrücklichsten und erschreckendsten Szenen des Films: Man sieht die Militärpolizei, die Studierende gewaltsam niederdrückt und abführt – und weiß dabei zugleich, dass die brutalsten Bilder gar nicht zu sehen sind, weil die sich im Stadion von Santiago abspielten.

Das Werk des Bildhauers Gajardo dagegen ist voller Ruhe. Der Künstler wuchs mit dem Blick auf das Gebirge auf und wollte schon immer das Geheimnis der Berge ergründen. Deshalb, so erzählt er im Film, möchte er die Steine von innen sehen: Er schlägt sie aus den Bergen der Kordillere und entkernt sie, bis sie als hohle Würfel gebändigt erscheinen, stapelbar sind – und doch noch immer etwas von ihrem Geheimnis behalten. Der so nahe Blick auf die Beschaffenheit der Steine zählt zu den schönsten Teilen des Films.