Identitätspolitik ist eine Form von Gesellschaftskritik. Sie wendet sich dagegen, dass Menschen in ihrem individuellen oder kollektiven Selbstausdruck nicht anerkannt werden. Für Schwarze, Schwule, Lesben, Transpersonen und alle weiteren kollektiven und individuellen Identitäten soll vielmehr gelten, dass sie in ihren Besonderheiten anzuerkennen sind. Eine Kritik an dieser Politik beklagt, dass sich die Identitätspolitik nicht um das allgemeine Ethos der Menschenrechte kümmere und es ihr nur um die eigene Gruppe, nicht aber um das Allgemeinwohl gehe. Deshalb sei es eigentlich auch keine Gesellschaftskritik, sondern nur eine Kritik, die die eigene Gruppe verteidigt, wodurch die Gesellschaft in immer kleinere Gruppierungen zersplittert würde. So etwa Sahra Wagenknecht in einem Interview im DLF.

Diese Kritik erscheint mir widersinnig, denn zumindest eine linksorientierte Identitätspolitik beinhaltet eine universalistische Prämisse: Alle Menschen haben das Recht, eigene kollektive und/oder individuelle Identitäten zu entwickeln und deren Anerkennung einzufordern. Wenn man diese Prämisse einbezieht, kommt man dahinter, dass die Identitätspolitik den Menschen als ein moralisches und kulturbildendes Wesen begreift: Die Menschen bilden den Kreis derjenigen, die moralisch das Recht haben, ihrer Identität in verschiedener Weise kulturell Ausdruck zu verleihen und deshalb in ihrer jeweiligen kulturellen Identität anzuerkennen sind. Dieser universalistische Bezug wird allerdings kaum explizit benannt, weder von Kritiker:innen noch von Vertreter:innen der Identitätspolitik. Deshalb handelt es sich um einem verklemmten Universalismus.

Dass hier ein starker moralischer Anspruch erhoben wird, erkennt man wiederum an der Rigorosität der von Vertreter:innen der Identitätspolitik vorgetragenen Kritik an den Aussagen anderer. Jede sprachliche Äußerung wird daraufhin untersucht, ob in ihr nicht eine Diskriminierung oder Ausgrenzung bestimmter Gruppen zum Ausdruck kommt. Dies führt zu einer Hermeneutik des Misstrauens und zu einer Art Überbietungswettbewerb, in dem immer feinere und subtilere Diskriminierungsformen entdeckt werden. Bei jeder Äußerung muss in jeder Situation darauf geachtet werden, dass keine Diskriminierung stattfindet. Zugleich kann die Hermeneutik des Misstrauens nicht rational kritisiert und in ihrer Gültigkeit begrenzt werden, solange der Maßstab der Kritik nicht expliziert ist. Deshalb tendiert diese Hermeneutik zu einer nicht mehr kritisierbaren Utopie: Die Welt soll bereinigt werden von allen Formen der Unterdrückung von Identitätsansprüchen. Letztlich mündet dies in eine Utopie der Säuberung, die genau so wenig Maß kennt wie die grundlegende Ablehnung jeder Identitätspolitik.

Nur wenn aber der Maßstab expliziert wird, kann man eine konkrete identitätspolitische Kritik als zu weitgehend oder eventuell als nicht weitgehend genug kritisieren. Wenn etwa der normative Maßstab, nämlich der Universalismus der Menschenrechte, expliziert würde, würde auch deutlich, dass damit eine anthropologische Bestimmung, also eine Aussage über den Menschen verbunden ist. Die Identitätspolitik verbindet zwei solcher Bestimmungen: Erstens ist der Mensch frei und hat deshalb einen moralischen Anspruch auf eine offene und gestaltbare Zukunft. Der Mensch ist zweitens ein kulturbildendes Wesen, das heterogene kulturelle Selbstverständnisse ausbilden kann. Was dabei ausgeklammert wird, ist eine dritte mögliche anthropologische Annahme, dass der Mensch nämlich ein natürliches Wesen ist; denn jede Festlegung durch natürliche Merkmale könnte die Universalität des identitätspolitischen Anspruchs gefährden. Wenn ein Mensch, dem Brüste, eine Gebärmutter, Eierstöcke und eine Vagina gewachsen sind, beansprucht, ein Mann zu sein, wird diese Wuchsform zu einer sogenannten Natur, die dem moralisch legitimierten Identitätsanspruch nicht im Wege stehen soll. Wenn eine Frau fordert, in gleicher Weise wie ein Mann mit ihrer Identität eine Spitzenposition in der Wirtschaft oder anderen Bereichen zu besetzen, pocht sie dabei nicht auf Natur, sondern auf ein Recht, dass allen Menschen zukommt. Dies gilt analog für Schwule, Schwarze, Transpersonen, Lesben und so weiter – in die Differenzierungen der Identitäten hinein.

Wenn man nun aber versucht, diese dritte Bestimmung des Menschen als natürliches bedürftiges Wesen ebenfalls mitzubedenken, funktioniert die Synthese der zwei Bestimmungen nicht mehr, die in der Identitätspolitik zusammengeführt werden. Wer die Unterschiede zwischen Männern und Frauen, Schwulen und Heterosexuellen und so weiter zumindest teilweise als natürliche Unterschiede begreift, kann legitimerweise die Frage stellen, ob es etwa eine natürliche Arbeitsteilung zwischen den Geschlechtern geben kann. Daraus kann als weitere Frage folgen, ob eine starke Gleichstellungspolitik nicht als ein Verstoß gegen die Natur des Menschen zu werten ist. Zumindest ist eine solche Diskussion nicht auszuschließen, wenn der Mensch auch als ein natürliches Wesen begriffen wird. Bezogen auf die Sexualität und Transidentität würden sich analoge Fragen stellen. Ist das noch natürlich oder handelt es sich um Abweichungen von der Natur des Menschen? All das sind Fragen, die von der Identitätspolitik ausgeschlossen werden.