Nach den "katastrophischen Erfahrungen der Pandemie" sei darauf zu achten, "dass Kinder, Jugendliche und junge Erwachsene nicht noch einmal derart einseitig in ihrer Lebensentfaltung beschränkt werden", heißt es in den Empfehlungen, die der Deutsche Ethikrat vor wenigen Tagen veröffentlicht hat. 

Die Hamburger Psychologieprofessorin Ulrike Ravens-Sieberer hat die psychische Verfassung der Kinder während der Pandemie in der sogenannten Copsy-Studie genau untersucht und kennt die Probleme der gesundheitlichen Versorgung dieser Altersgruppe. Hier erklärt sie, was sie sich von der Empfehlung des Ethikrates in der Praxis erhofft.

ZEIT ONLINE: Frau Ravens-Sieberer, dass Kinder während der Pandemie psychisch stark belastet waren, ist bekannt. Doch kaum hat sich ihr Leben normalisiert, stecken sie schon mitten in den nächsten Krisen: der Klimawandel und der Ukraine-Krieg. Wie geht es den Kindern und Jugendlichen damit?

Ulrike Ravens-Sieberer: Das ist ein wichtiger Punkt. Die ersten Ergebnisse unserer neuesten Copsy-Befragung aus diesem Herbst zeigen: Kinder und Jugendliche fühlen sich zwar wieder stabiler, seitdem es keine Kontaktbeschränkungen mehr gibt und sie ihren Alltag mit Schule und Hobbys wiederhaben. Aber ihre Lebenszufriedenheit ist noch nicht wieder auf dem Level wie vor Corona. Viele berichten über Zukunftssorgen angesichts der aktuellen Krisen. Das Gute ist jedoch, dass wir das jetzt dank der wissenschaftlichen Begleitung sofort bemerken und öffentlich darauf aufmerksam machen können.

ZEIT ONLINE: Darüber sprechen ist das eine. Doch was kann konkret und vor allem zügig für die jungen Menschen getan werden?

Ravens-Sieberer: Es gibt verschiedene Möglichkeiten und lokale Projekte, die schon in der Zeit vor Corona erprobt oder geplant wurden. Dazu könnte zum Beispiel der Einsatz von Mental Health Coaches als zusätzliche Gesundheitsfachkräfte an einzelnen Schulen gehören. Das können Lehrerinnen oder Sozialarbeiter mit einer Weiterbildung sein. Sie greifen belasteten Kindern unter die Arme und helfen ihnen dabei, ihre eigenen Ressourcen wiederzuentdecken: Was können sie gut, wann fühlen sie sich wohl, worauf können sie bauen, um mit Krisen umzugehen? Wenn das nicht ausreicht, vermitteln diese Coaches die Kinder rechtzeitig an Ärztinnen oder Therapeuten weiter.

Ansonsten gab es früher auch schon Projekttage, bei denen Menschen in Schulen gekommen sind, die persönliche und berufliche Erfahrungen mit psychischen Krisen hatten. Sie haben den Schülerinnen einen Tag lang den Raum geboten, sich ohne Scham und Scheu über ihre Sorgen auszutauschen.

Das sind gute Ansätze. Aber wir sollten das übergeordnete Ziel nicht aus den Augen verlieren: Wir brauchen eine gut ausgebaute, flächendeckende und niederschwellige psychische Gesundheitsprävention in Kindertagesstätten und Schulen und angemessene Behandlungsmöglichkeiten. 

ZEIT ONLINE: Das fordert auch der Ethikrat. Sie selbst haben schon im Frühjahr 2020 auf die psychischen Folgen der Pandemie für Kinder und Jugendliche aufmerksam gemacht. Jetzt, fast zwei Jahre danach, kommt die Stellungnahme des Ethikrates. Ein reichlich später Zeitpunkt, oder?

Ravens-Sieberer: Ich kann verstehen, wie man zu dieser Einschätzung kommt. Ich habe mich über die Stellungnahme jedoch vor allem gefreut. Sie ist sehr deutlich und genau das muss sie auch sein, um die gesellschaftliche Debatte anzufeuern und wirkliche Veränderungen zu erreichen. Sie fasst alle wichtigen wissenschaftlichen Erkenntnisse zusammen, die zeigen, dass sich die psychische Gesundheit von Kindern und Jugendlichen in der Pandemie und während der sozialen Isolation verschlechterte. Unsere Copsy-Studie zeigte, dass sie sich insgesamt öfter niedergeschlagen fühlten und auch psychische Probleme wie Ängste oder Depressionen zugenommen haben. Der Ethikrat betont: Wir brauchen gesellschaftliche Einigkeit und Commitment in dem Ziel, die Gesundheit und die Interessen von Kindern in den Fokus zu rücken, auch wenn sie in unserer Gesellschaft in der Minderheit sind. Dafür müssen sich die Strukturen ändern – und zwar langfristig.