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Hartz-IV-Nachfolger FDP will Bürgergeld verschärfen: "Fehlanreize sind nicht nur Anekdoten"

Jobcenter in Berlin.
Jobcenter in Berlin: 2023 hat das Bürgergeld das vorherige Hartz-IV abgelöst
© Schöning / Imago Images
Eine neue Studie bestätigt eine häufige Kritik am Bürgergeld: Mit dem Hartz-IV-Nachfolger nehmen weniger Betroffene eine Arbeit auf. Die FDP fordert Änderungen.

Es ist nicht so, dass es in den letzten Monaten an Stimmen gemangelt hätte, die eine Überarbeitung des Bürgergelds gefordert haben. So will die oppositionelle Union, die vor eineinhalb Jahren dem Hartz-IV-Nachfolger im Bundesrat noch zugestimmt hatte, das Bürgergeld in seiner jetzigen Form wieder abschaffen. 

Auch die FDP, als Regierungspartei an der Einführung des Bürgergelds beteiligt, sprach sich für ein "Update" aus. In Zeiten von Haushaltsnotlagen und Arbeitskräftemangel scheint die großzügige Reform den eigenen Anhängern nicht mehr vermittelbar. Mit dem neuen Bürgergeld waren die Sanktionen bei Regelverstößen abgeschwächt, die Regelsätze erhöht und die Grenzen für Vermögen und Wohnungskosten im ersten Jahr des Bezugs erhöht worden.

Bislang konnte niemand genau sagen, ob die häufige Kritik am Bürgergeld auch wirklich stimmt: Nehmen mit dem Bürgergeld tatsächlich weniger Arbeitslose eine Arbeit auf als zuvor? Weil die Reform gerade mal ein gutes Jahr alt ist, fehlten dafür bislang schlicht die Daten. Für SPD, Grüne, die Sozialverbände und Gewerkschaften war es leicht, die Forderungen nach einer Überarbeitung als populistische Sprüche oder "Stimmungsmache" auf Kosten der Schwächsten abzutun.

Bürgergeld-Studie: Sechs Prozent weniger Arbeitsaufnahmen

Das ist nun anders: Das an die Bundesagentur für Arbeit angedockte Institut für Arbeitsmarkt- und Berufsforschung hat eine Untersuchung vorgelegt, die erstmals belastbare Rückschlüsse zulässt. Wirtschaftswissenschaftler Enzo Weber fand heraus: Das Bürgergeld senkt offenbar den Anreiz für Menschen in der Grundsicherung, eine Arbeit aufzunehmen. Rechnet man alle anderen Effekte heraus, ist die Zahl der Arbeitsaufnahmen durch das Bürgergeld im ersten Jahr nach der Einführung um rund sechs Prozent gesunken. Hier lesen Sie mehr zu den Ergebnissen der Studie.

Die Studie befeuert die politische Debatte – wobei auch die Ergebnisse eher die bekannten Reflexe zu bedienen scheinen, als wirklich zu neuen Positionen zu führen. Der stellvertretende Fraktionsvorsitzende der Grünen, Andreas Audretsch, sieht weiterhin keinen Grund für eine Verschärfung der Bürgergeld-Regeln: "Wir müssen Menschen in Arbeit bringen, darauf haben wir alles ausgerichtet", sagte Audretsch dem stern. Der Kern des Bürgergeldes sei, Menschen dauerhaft in Jobs zu vermitteln, darum habe man neue Anreize für Weiterbildungen geschaffen. "Die Studie bestätigt, dass genau das der richtige Weg ist."

Ein zentrales Element des Bürgergelds ist, dass der sogenannte Vermittlungsvorrang abgeschafft wurde. Dadurch können Grundsicherungsempfänger eine Weiterbildung machen, statt direkt einen Job annehmen zu müssen. Dadurch wollte die Ampel die Langzeitarbeitslosigkeit bekämpfen, die oft auch mit mangelnder Qualifizierung zu tun hat. Daran, dass diese Grundidee der Qualifizierung richtig sei, änderten auch seine Ergebnisse nichts, sagte Studienautor Weber dem "Spiegel". "Wir müssen aber mehr Arbeitsaufnahmen und eine hohe Qualität von Jobs zusammenbringen."

FDP: "Fehlanreize sind nicht nur Anekdoten"

Die FDP erhöht nun, mit den neuen Studien-Ergebnissen im Rücken, den Druck: "Die Studie belegt, dass Fehlanreize beim Bürgergeld nicht nur Anekdoten sind", sagte der FDP-Sozialpolitiker Jens Teutrine dem stern. "Im Interesse aller ist eine weitere Überarbeitung des Gesetzes nötig."

Die Koalition dürfe es "nicht kalt lassen und nur schulterzuckend zur Kenntnis nehmen, wenn weniger Menschen in Arbeit vermittelt werden, sondern muss handeln", sagte der FDP-Politiker. Die Wirtschaft suche dringend Arbeitskräfte, während sich zeitgleich die Arbeitsaufnahme von Arbeitslosen verringere. 

Teutrine schlägt deshalb unter anderem verschärfte Sanktionen vor: "Wer nicht mitwirkt oder Termine grundlos nicht wahrnimmt, muss schneller mit härteren Konsequenzen rechnen." Aber er hält auch neue Hinzuverdienstgrenzen und einen anderen Modus der Qualifizierung für notwendig. "Statt Vollzeit während der Arbeitslosigkeit zu qualifizieren, braucht es mehr duale Qualifizierungen neben einer Arbeitstätigkeit." 

Grüne sehen bei Sanktionen "Möglichkeiten ausgeschöpft"

Wissenschaftler Enzo Weber spricht sich unter anderem dafür aus, den Regelsatz schon beim ersten Verstoß um 30 Prozent zu kürzen – diese höchste Kürzung gibt das Bundesverfassungsgericht als Rahmen vor. Bislang wird diese 30-prozentige Kürzung des Regelsatzes erst nach dem dritten Verstoß fällig und dann nur für einen Monat. 

Grünen-Politiker Audretsch allerdings sieht mit der jetzigen Sanktionsregelung alle Möglichkeiten ausgeschöpft. "Das Bundesverfassungsgericht hat Kürzungen bis zu 30 Prozent des Regelsatzes erlaubt, das haben wir mit der Reform möglich gemacht." Um aber doch noch mehr Anreize für eine Arbeitsaufnahme zu schaffen, fordert er eine deutliche Erhöhung des Mindestlohns, 2024 auf 14 Euro, 2025 auf 15 Euro pro Stunde. "Ein riesiger Anreiz noch stärker in Arbeit zu gehen."

Für die Grünen ist es eine leidige Debatte. Ursprünglich hatte man dort gehofft, dass die Diskussionen um die Grundsicherung für Arbeitslose nach der erfolgreichen Verabschiedung des Bürgergelds erledigt sei. Stattdessen erleben sie, wie der Sack immer wieder aufgemacht wird: Erst im Zuge der letzten Haushaltsverhandlungen hatte Arbeitsminister Hubertus Heil (SPD) die Sanktionen für sogenannte Totalverweigerer verschärft. Hier lesen Sie mehr dazu.

Ob es in dieser Legislatur noch zu Anpassungen am Bürgergeld kommt, scheint derzeit offen. Im Wahlkampf weniger angreifbar wären die Ampel-Parteien wohl, wenn sie das Bürgergeld tatsächlich auch an neue Erkenntnisse anpassen würden. Denn eines zeichnet sich bereits ab: Die Union wird mit der "Neuen Grundsicherung", mit der sie das komplette Bürgergeld der Ampel ablösen will, in den Wahlkampf ziehen.

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