Diese Rede war vielleicht die schwerste, die Frank-Walter Steinmeier je halten musste. Als erster Bundespräsident hat er in der israelischen Holocaust-Gedenkstätte Jad Vashem gesprochen. Anlass ist das Gedenken zum 75. Jahrestag der Auschwitz-Befreiung. Ein großer Auftritt, bei dem jedes Wort zählt.

Steinmeier ist dieser Verantwortung gerecht geworden. Mit einem Bogen von der unvergänglichen deutschen Verantwortung für den Holocaust über die gegenwärtige Lage in Deutschland bis zu internationalen Entwicklungen erfasste der Bundespräsident den Antisemitismus trotz der auf acht Minuten begrenzten Redezeit denkbar umfassend.

Richtig und wichtig, dass Steinmeier an die sechs Millionen Toten erinnerte und dieses monströse Verbrechen mit Namen und Schicksalen verband. Wichtig aber auch, dass er den Holocaust genauso aufseiten der Täter personalisierte. "Die Täter waren Menschen. Sie waren Deutsche. Die Mörder, die Wachleute, die Helfershelfer, die Mitläufer: Sie waren Deutsche", sagte er. Eine klare Formulierung, die die kollektive Schuld der Deutschen unterstreicht. Und die der Erzählung entgegentritt, wonach hier eine große, aber zugleich diffus-entindividualisierte Staatsmaschine zum Massenmord ansetzte.

Eine deutsche Gegenwart, die fassungslos macht

Doch Steinmeier wäre zu kurz gesprungen, wenn er es dabei belassen hätte. Stattdessen ein Eingeständnis, dass ein "Nie wieder!" heute nicht mehr selbstverständlich ist: "Ich wünschte, sagen zu können: Wir Deutschen haben für immer aus der Geschichte gelernt", sagte Steinmeier. Doch das könne er nicht, wenn Hass und Hetze sich ausbreiteten.  

Es war ein weiterer Kernsatz der Rede, denn Belege hat Steinmeier leider genug. So ist es im Deutschland der Gegenwart mittlerweile wieder gefährlich, in der Öffentlichkeit eine Kippa zu tragen. In Schulen kann es passieren, dass jüdische Kinder aufgrund ihres Glaubens ausgegrenzt werden. Und auch das Äußerste, tödliche Gewalt, ist nicht mehr ausgeschlossen: Beim Anschlag von Halle, den Steinmeier auch erwähnte, verhinderte nur eine robuste Tür, dass ein mutmaßlicher Rechtsterrorist an Jom Kippur zahlreiche Juden tötete.

Die Entwicklung ist dramatisch. Doch statt eines Aufschreis lässt sich hierzulande vor allem eine bedrohliche Diskrepanz beobachten: zwischen den immer gleichen Bekundungen der Politik, wonach Antisemitismus in Deutschland engagiert bekämpft werden muss – und einer indifferenten, sogar ablehnenden Haltung in nennenswerten Teilen der Gesellschaft, die sich wohl damit erklären lässt, dass laut Umfragen jeder vierte Deutsche antisemitisch denkt.

Auch für dieses Phänomen hatte Steinmeier in seiner Rede eine Erklärung. "Ja, wir Deutsche erinnern uns", sagte er. "Aber manchmal scheint es mir, als verstünden wir die Vergangenheit besser als die Gegenwart."

Dieser nachdenkliche Ton ist der Realität angemessen. Zugleich offenbart er eine durchaus verständliche Hilflosigkeit gegenüber der Tatsache, dass der Antisemitismus 75 Jahre nach der Befreiung von Auschwitz sich in Deutschland wieder ausbreitet. Die deutsche Verantwortung vergehe nicht, bekundete Steinmeier in Jad Vashem tapfer. "Ihr wollen wir gerecht werden. An ihr sollt ihr uns messen." Das wird leider nicht einfach werden.