Das war also bislang die Woche der FDP in Zahlen: zwölf Punkte und ein Missverständnis. Ein Dutzend Vorschläge zur Wirtschaftswende haben die Liberalen zusammengeschrieben, als Textbruch für den Leitantrag auf dem Parteitag am Wochenende. Und seitdem fühlt sich die FDP in der medialen und politischen Textexegese einmal mehr ungerecht behandelt.

Eine "Scheidungsurkunde für die Ampel" sei das, befand Bayerns Politikgroßwetterlagendeuter Ministerpräsident Markus Söder prompt. Und tatsächlich tut man sich schwer, in dem Papier nicht das Präludium für den kommenden Bundestagswahlkampf zu lesen: Kürzungen beim Bürgergeld bis zu 30 Prozent für den, der einen angebotenen Job ablehnt, ein Moratorium bei Sozialleistungen, weg mit dem Soli, Aussetzen des Lieferkettengesetzes und so schnell wie möglich raus aus der EEG-Umlage.

Inhaltliche Kontroversen über den Leitantrag und über die Forderungen nach einer Wirtschaftswende dürfte es auf dem Parteitag kaum geben. Was die Parteispitze hier präsentiert hat, ist Mainstream-FDP, absolut mehrheitsfähig in der Partei. Umso mehr wird es auf die Rede von Lindner am Samstagmittag ankommen. Ein Richtungsentscheid – oder wenigstens ein Hinweis – muss her. Will die FDP rein oder raus? Ewig kann Lindner weder die eigene Basis noch die potenzielle Wahlbevölkerung im Unklaren lassen über seine Absichten. Die Mitglieder werden Antworten erwarten. 

Bitte etwas Rücksicht vor dem Parteitag

Steuererleichterungen, keine neuen Sozialleistungen, Aus für die Rente mit 63 – all das fordert die FDP in dem Wissen, dass kaum etwas davon mit den Koalitionspartnern von SPD und Grünen durchsetzbar sein wird. Deren Reaktion folgte denn auch und fiel entsprechend aus. Die FDP "irrt gewaltig", ließ SPD-Chef Lars Klingbeil mit Blick auf die Pläne der Liberalen ausrichten, strengere Sanktionen beim Bürgergeld durchzusetzen. Womit man natürlich beim Aufsetzen des Wirtschaftspapiers hatte rechnen müssen – was aus Sicht vieler wiederum den Schluss nahelegt: Das war mindestens eine gezielte Provokation. Die FDP lege es in Wahrheit auf den Koalitionsbruch an.

Und da sitzt für führende Liberale das Missverständnis. Man wird an der Parteispitze nicht müde zu betonen: Der Parteitag am Wochenende sei nun mal ein "Parteitag der FDP, nicht der Ampel", wie Generalsekretär Bijan Djir-Sarai sagt. Also dürfe die FDP auch die reine FDP-Sicht auf die Dinge formulieren. Ein bisschen Rücksicht, bitte, auf die liberalen Befindlichkeiten. Was umgekehrt auch SPD und Grüne vor ihren Parteitagen für sich reklamieren.

Und außerdem, argumentiert die FDP, sei das Ganze ja völlig unabhängig vom Parteitag zu sehen, weil die Wirtschaft jetzt endlich mal einen Hallo-Wach brauche. Und den wolle man gern liefern – ausdrücklich in und mit dieser Koalition. Kurz: Alles in allem werde der FDP eine Strategie unterstellt, wo in Wahrheit keine sei.

Die Text-Bild-Schere der FDP

Als allerletztes Argument in der Kaskade "Warum wir weiterregieren (sollten)" schiebt die FDP seit Monaten die Sorge um die Stabilität vor. Klar, eine Regierungskrise in dem derzeitigen internationalen Umfeld kann sich Deutschland nicht leisten – die würde letztlich allen drei Ampelparteien schaden. Und wenn man sich das so erklären lässt und dabei in treu-traurigen Augen führender Liberaler blickt, dann wirkt es bisweilen so, als hoffe die FDP insgeheim vor allem, sich selbst davon zu überzeugen: Wir ziehen das jetzt durch und sei es für die Beständigkeit.

Auf einen Fortbestand der Ampel bis zum regulären Wahltermin würde gerade wohl ohnehin niemand in der FDP den nächsten Sylturlaub verwetten. Trotzdem: Mit einer Exit-Drohung will die Parteispitze ihr Wirtschaftsprogramm explizit nicht versehen, gibt sich vielmehr Mühe, nichts davon als Bedingung für den eigenen Regierungsverbleib zu formulieren. Wie man generell weder bei öffentlichen Auftritten noch in Hintergrundgesprächen oder auf Empfängen derzeit kaum auf Liberale trifft, die Ausstiegsszenarien ventilieren.  

Willst du mitregieren? Ja, nein, vielleicht. Der FDP gelingt es trotz dieser ganzen Beteuerungen nicht, den Eindruck zu vermitteln, sie stehe ernsthaft hinter der Ampelkoalition. Wobei sich streiten lässt, ob sie es denn überhaupt ernsthaft versucht hat.

Reden und Handeln gehen nicht so recht synchron

Und diese Text-Bild-Schere ist vielleicht das Grundproblem der Liberalen in der Koalition. Da ist das, was recht einhellig alle Spitzenfunktionäre der Partei sagen: Also an uns soll's nicht scheitern. Was nicht unbedingt dazu passt, wie sie sich inhaltlich verhält, beispielsweise beim Bürgergeld: erst zustimmen, dann monatelang darüber meckern. Oder wenn man eben in zwölf knackigen Wirtschaftspunkten der gesamten Öffentlichkeit klarmacht, dass das eigene Herz in Wahrheit weit außerhalb des gemeinsamen Koalitionsvertrags schlägt. Reden und Handeln gehen also nicht so recht synchron bei der FDP in dieser Ampel.

Womit die FDP, allen voran ihr Parteichef Christian Lindner, inzwischen eine Art Enigma, also ein Rätsel, geworden ist. Auch in den Wettbewerbern, sei es bei der Union oder der SPD, tut man sich derzeit schwer, den Bundesfinanzminister zu lesen. Was Lindner plant, welche Strategie er verfolgt, darüber kursieren nur Mutmaßungen. Man könne sich schlicht keinen Reim drauf machen, heißt es aus der Union.

Dabei wird Lindner wissen, dass er liefern muss. Für die FDP hängt die Bilanz der Regierungsjahre viel stärker an den Wirtschaftsdaten als bei SPD und Grünen. Die müssen nach vier Jahren vor allem in der Sozial- und Klimapolitik etwas vorweisen können. Ob das derzeit ohnehin mickrige BIP jetzt eine Nachkommastelle schneller oder langsamer wächst, dürfte für die Ampelpartner kaum wahlentscheidend werden. Für die FDP ist das Kernkompetenz.

Längst haben sich die laufenden Haushaltsverhandlungen zu einer Art Sollbruchstelle der Ampel entwickelt. Im Haushalt klafft eine enorme Lücke, mit bis zu 30 Milliarden Euro rechnen Fachleute. Trotzdem bleibt die FDP bislang bei ihrer dreifachen Haltelinie: Die Schuldenbremse wird nicht reformiert, kein Notlagenbeschluss, sie aufzuheben – und keine höheren Steuern. Alle drei Punkte, so ist aus der Partei zu hören, dürfte die FDP als absolute Tabus verstehen. Nichts zu machen, keine Verhandlungen, null Kompromiss. Womit eigentlich nur eins bleibt: Kürzen im Haushalt. Was wiederum bei SPD und Grünen im Einzelfall auf so wenig Gegenliebe stoßen wird, dass dort Zweifel an der Koalition wachsen dürften.