"Un, deux, trois, quatre", zählte Françoise Cactus die Songs ihrer Band Stereo Total ein. "Un, deux, trois, quatre" sollte unser Stichwort sein, die Bühne zu stürmen, der Band die Instrumente zu entreißen und mindestens einen unserer Songs vor großem Publikum zu spielen. Damals, Mitte der Neunzigerjahre irgendwo in der süddeutschen Provinz, hatten meine Band und ich allerdings Françoises Humor und integrative Kreativität deutlich unterschätzt. Kaum waren wir uneingeladenerweise auf die Bühne geklettert, schnappte sie sich unseren Sänger und bat ihn, einen nicht für seine tänzerische Virtuosität bekannten Teenager, zum Pas de deux. Der Rest unserer Band wurde kurzerhand für die nächsten Songs als Backgroundtänzerinnen eingemeindet. Eine Diva hätte uns vielleicht den Saalschutz auf den Hals gehetzt, aber – Relax Baby Be Cool. Bei Stereo Total standen einfach ein paar Lieder lang ein paar mehr Leute auf der Bühne, voilà.

Am Sonntag, dem 5. Mai 2024, wäre Françoise Cactus, die große Musikerin und Autorin, die es in den Achtzigern aus dem französischen Burgund nach Berlin-Kreuzberg verschlagen hatte, zum ungefähr 3,75-ten Mal 16 Jahre alt geworden. 2021 ist sie verstorben, bis heute unvergessen bei ihren Fans, denn selbst wenn man sich so trottelig anstellte wie wir damals bei unserer Störaktion, lag es Françoise fern, ihre Fans zu demütigen. 

In den vergangenen Dekaden hatten Fans ganz schön zu leiden. Zeitweise galten sie, insbesondere solche jenseits der Teenagerjahre, als nie ganz erwachsen gewordene Spinner mit Elvis-Museum in der Garage. Noch schlimmer: Heute verbinden viele mit dem Fansein vor allem prügelnde Fußballhools und die Social-Media-Scharmützel konkurrierender Followercrowds. Die Schwärmerei für so manche Band ist nicht mehr nur mit etwas Herzeleid konnotiert, sondern mit Roofies im Backstagebereich und krasser sexualisierter Gewalt.

Doch Françoises feministisches Konzept des Fanseins und Fans-Habens war ein völlig anderes. Zwar hätte sie sich über eine zärtliche kleine Rauferei zwischen Stereo-Total- und Andreas-Dorau-Fans womöglich amüsiert, die Brutalitäten von Machofankulturen waren ihr aber zuwider. Ihre Haltung blieb immer die einer Antidiva. Fansein bedeutete für sie, sich bewegen zu lassen und Teil eines Schwarmes zu werden. Diesem Schwarm brachte sie große Fürsorge entgegen. Sie organisierte Benefizkonzerte für geklaute Gitarren befreundeter Punks, servierte an hohen Feiertagen Ente à l'orange in ihrer Wohnung und hörte sich auch völlig überflüssige Fälle von Liebeskummer bei zu vielen Weißweinschorlen (un)geduldig an.

Für Françoise zu schwärmen, hieß immer auch, mit Françoise zu schwärmen: für Künstlerinnen und Künstler wie Divine, Sylvie Vartan, Nico, Serge Gainsbourg, Yoko Ono, für die Diva aus dem Tabakladen um die Ecke, Cobra Killer, Plastic Bertrand, Suicide, Jacno, Jane Birkin, Motörhead, Hannah Schygulla, The Plastics, Hello Kitty und My Melody, Brigitte Fontaine und andere Kettenraucherinnen, die Nouvelle Vague oder die legendäre Kreuzberger Videothek Videodrom.

Eine vollständige Liste würde Bücher füllen, denn Françoise war sehr großzügig mit ihrer Begeisterungsfähigkeit – wenngleich sie eine besondere Affinität für die französische Yé-Yé-Generation und (post-)punkige Bands der Achtzigerjahre hatte. Hinter dieser vermeintlichen Rückwärtsgewandtheit steckte allerdings keineswegs die Sehnsucht nach herbeifantasierten vergangenen Zeiten, in denen alles – inklusive der Musik – besser gewesen sei. 

Stereo Total 2006 live in der Volksbühne am Rosa-Luxemburg-Platz, Berlin © Bilan/​ POP-EYE/​imago images

So heißt es in dem gerade erscheinenden Buch Oh Oh Mythomanie. Erlebtes, Erinnertes & Erlogenes, das Texte, Fotos und Zeichnungen von Françoise Cactus versammelt, nostalgische Verklärungen lägen ihr fern: "No Future!" sei ein gutes Motto, "No Past!" klinge aber "auch nicht schlecht". Sie sträubte sich gegen normative Vorstellungen von planbaren Lebensabschnitten, von Fortschritt und vom Erwachsenwerden. 

Was Françoise Cactus' Musik- und Lebenspartner Brezel Göring in der Einleitung von Oh Oh Mythomanie über ihr Verhältnis zur Wahrheit schreibt, gilt auch für ihren Ansatz, mit Zeit umzugehen: Sie habe "die Vielschichtigkeit von Wahrheit und Wirklichkeit als wirksame Waffe im Kampf gegen eine herrschaftsbeanspruchende Definitionsmacht von Wahrheit gesehen (…), die ihre Gewalttätigkeit in einer Vereinfachung von gesellschaftlicher, zwischenmenschlicher und zwischengeschlechtlicher Vieldeutigkeit findet".

Francoise Cactus im Jahr 2012, zu Hause in ihrer Wohnung in Kreuzberg © Wallmüller/​imago images

Textzeilen wie "Ich will bleiben für immer 16", "Ich weiß nicht, bin ich ein Mann, bin ich ne Frau, bin ich ein Tier?" oder ihr erstes Buch, die Autobigophonie, in der sie ihr eigenes Epitaph vorwegnahm – all das zeigt, wie queer Françoises Umgang mit Zeit, Wahrheit und Geschlecht war und wie wenig sie sich um temporale oder essenzialistische Vereindeutigungen scherte.

Françoise Cactus und Gina D'Orio, Sängerin der Band Cobra Killer, im April 2004 © Bilan/​ POP-EYE/​imago images

Zeitgenössische Inspiration schlich sich vor allem in Form der Kunst ihrer vielen Freundinnen und Freunde in ihr Werk. In ihrer gigantischen Handtasche fand sich neben Notizbüchern, Nikotinkaugummis, Kazoos, Kaossilatoren und einem karierten Schal stets auch ein Archiv der neuesten Single-, Buch- und CD-Releases, die ihr die Kumpels auf der letzten Party zugesteckt hatten. Wie alle Fans war sie eine emsige Sammlerin popkulturellen Wissens, das nicht nur in ihrer Musik oder ihrer Radiosendung Das musikalische Universum der Françoise Cactus auf Radio Eins, sondern auch in ihren Texten und Büchern Niederschlag fand.

In dem Buch Oh Oh Mythomanie findet sich neben wunderbaren Kurztexten über Kreuzberger Bars, Enten, das Rauchen, die Gefahren des Pogotanzens oder France Gall auch Françoises Roman Lebenslänglich vierzehn, in dem sich eine idyllische Urlaubsvilla mit Swimmingpool als lebensgefährlicher Ort für den jungen Liebhaber einer dreiköpfigen Berliner Künstlertruppe entpuppt – letzte eine Hommage an ihr heiß geliebtes französisches Kino. Es ist das postume Geburtstagsgeschenk an ihre Freundinnen, Freunde und natürlich an ihre Fans.

Françoise Cactus: "Oh Oh Mythomanie. Erlebtes, Erinnertes & Erlogenes", zusammengestellt von Brezel Göring, Stefanie Mousa und Jonas Engelmann; Ventil Verlag, Mainz 2024; 25, – €