Vor ein paar Jahren hatte ich mal einen Platten in Tansania, es war der dritte innerhalb weniger Tage und mir gingen die Reservereifen aus. In einer, nun ja, eher informellen Hinterhofwerkstatt in der nächsten Ortschaft wurde mir jedoch geholfen. Einer schraubte schon mal das Rad ab, ein anderer telefonierte rum, ob jemand einen passenden Reifen übrig hätte, alles war improvisiert. Am Ende waren alle Reifen geflickt, ich weiß bis heute nicht genau, wie. "Das klappt immer", sagte der Schrauber zum Abschied noch. 

Ein anderes Erlebnis hatte ich im vorigen Winter in der Ukraine. Ich traf mich mit meinem Fahrer, der nebenbei das Militär unterstützte, indem er kaputte Autos von der Front zu einer Werkstatt in Kiew brachte. Das Auto hatte keine Windschutzscheibe mehr, die Fahrt dauerte gut sieben Stunden, die Außentemperaturen lagen im Minusbereich. Der Fahrtwind sei doch nicht auszuhalten, sagte ich. "Dann setze ich eben eine Brille auf", entgegnete der Fahrer.  

Beides wäre in Deutschland undenkbar (Gewerbeaufsichtsamt! TÜV!), die Lösung beider Probleme lag in grenzenlosem Pragmatismus und beide Gegenden dieser Welt spielen eine Rolle in dieser Kolumne und bei der Frage: Wie sollen Russen und Ukrainer eines Tages miteinander umgehen, wenn der Krieg vorbei ist? 

Es wird eine Zeit nach Putin kommen

Wie der Krieg in der Ukraine enden kann, ist derzeit völlig unklar. Es sieht nicht nach einem Sturz Putins aus; eine Niederlage der Ukraine würde wohl erst den Anfang einer katastrophalen Unterjochung bedeuten, nicht das Ende. Ein Diktatfrieden ist kein Frieden. Und auch eine durch Dritte verhandelte Lösung des Konflikts würde wohl allenfalls bedeuten, territoriale Grenzverschiebungen widerwillig zu akzeptieren, sich aber ansonsten weitgehend aus dem Weg zu gehen, es wäre eine Art Korea-Modell. 

Klar ist aber: Es kommt eine Zeit nach Putin und nach der Diktatur. Die Geschichte hat mehrfach gezeigt, dass selbst die fiesesten Schurken irgendwann fallen. Nicht sie überdauerten die Geschichte, es war immer umgekehrt. Und es ist immer gut, sich darauf vorzubereiten. 

Und damit zurück nach Ruanda, wo sich dieser Tage zum 30. Mal der Genozid jährt, den die Hutu an den Tutsi verübten. Das war keine wilde Meuchelei unter Einheimischen, sondern ein orchestrierter, wohlvorbereiteter Vernichtungsfeldzug einer Mehrheit gegen eine Minderheit. Innerhalb von etwa hundert Tagen starben bis zu eine Million Menschen. 

Die Wiederkehr der Wiesengerichte

Nach dem Ende des Konflikts stand das Land vor der Aufgabe, die Gräuel aufzuarbeiten, um in die Zukunft blicken zu können. Auf einem klassisch juristischen Weg hätte das Jahrzehnte gedauert, zumal fast alle amtierenden Richter des Landes getötet worden waren. Also wurden Ende der Neunziger die traditionellen Wiesengerichte, die Gacacas, wiederbelebt und modernisiert. Benannt wurden sie nach dem Ort, an dem sie tagten. Die Bilder dieser Gerichte gingen damals um die Welt, zu sehen waren Menschengruppen, die an Tischen und im Gras unter Bäumen saßen. Die Richter bekamen eine Art Crashkurs in moderner Rechtsprechung und Gerichtsbarkeit. Die Verhandlungen fanden allerdings sehr lokal und auf eher traditionelle Weise statt. Vor den Gacacas konnten Täter, die ihre Gräuel gestanden, auf Milde hoffen, aber nicht per se auf Straffreiheit. 

Ähnlich traditionell arbeiteten die Menschen im Nachbarland Uganda den Bürgerkrieg zwischen den Rebellen der Lord's Resistance Army und den Regierungstruppen samt ihrer jeweiligen Anhängerschaft auf, beim sogenannten Mato Oput. Ähnlich ging es in Chile zu, wo sogenannte Wahrheitskommissionen nach dem Sturz des Pinochet-Regimes eingesetzt wurden. Auch in Südafrika wurden nach dem Ende der Apartheid solche Kommissionen eingesetzt. Für diese Form der Aufarbeitung hat sich der Begriff der Transitional Justice etabliert. 

Einer der Vorläufer davon waren übrigens die Nürnberger Prozesse, auch wenn sich diese in vielerlei Hinsicht nicht mit den anderen Beispielen vergleichen lassen. Eine Art Fortsetzung dieser Art von Vergangenheitsbewältigung wiederum ist der Internationale Strafgerichtshof in Den Haag, der seine Arbeit 2002 aufnahm. 

Russlands Gräuel sind gut belegt

Das Dokumentieren von Kriegsverbrechen und Völkerrechtsverstößen geschieht in der Ukraine bereits so intensiv wie in keinem laufenden Konflikt zuvor. Die Ausmaße sind unvorstellbar, immerhin handelt es sich hier nicht um einen Bürgerkrieg, sondern um einen Angriffskrieg einer der größten Armeen der Welt gegen ein Nachbarland. Die Gräuel von Butscha, Borodjanka und Isjum sind gut belegt, aber vieles ist noch im Unklaren, weil Russland weiter viele Gebiete besetzt und damit von der Weltöffentlichkeit abgeschottet hält. 

Dokumentation und Recherche sind eine wesentliche Voraussetzung für die Vergangenheitsbewältigung. Nur dann können das Leid der Opfer und die Verantwortung der Täter anerkannt werden. Sie sind Voraussetzung für Strafverfolgung, die wiederum Bedingung ist für eine Aussöhnung. All das balancierten auch die Gacacas aus, auch wenn sie manchmal etwas stärker auf die Information als auf die Wiedergutmachung fokussiert waren. 

Daran gab es immer wieder Kritik, in Ruanda genauso wie in Südafrika. Die Arbeit der Transitional Justice zielte im Wesentlichen auf die gesamtgesellschaftliche Aufarbeitung eines Konflikts ab, das persönliche Gerechtigkeitsempfinden einzelner Betroffener und damit verbundene Entschädigungsansprüche standen dabei hintenan. Das ist alles andere als perfekt, es ist aber pragmatisch. 

Eine weiterentwickelte Form der Aufarbeitung täte also gut daran, den individuellen Aspekt stärker mitzudenken und die einzelnen Betroffenen nicht aus dem Blick zu verlieren. In der Ukraine sind die Folgen jetzt schon zu spüren, die das Land auf Jahrzehnte beschäftigen werden. Misstrauen, Wut, Hass, Depression, Angststörungen. Es wird einer Vergangenheitsbewältigung im Wege stehen, selbst wenn ihr Ziel nicht ist, dass ukrainische Asow-Kämpfer und russische Wagner-Söldner in der Taiga oder den Karpaten unter einer Birke sitzen und ihre Schuld verhandeln. 

Psychologische Hilfe wird nötig sein

Trauma lässt sich nicht per Gesetz für geheilt erklären, es muss behandelt werden. Das weiß jeder, der sich schon mal mit Therapien auseinandergesetzt hat. Genau deshalb wird die Ukraine sehr viel psychologische Unterstützung brauchen, ganz egal, wie die Welt nach dem Ende des Krieges aussieht. 

Wie wäre es also, wenn der Westen unter den vielen geflüchteten Ukrainerinnen spezielle Ausbildungsprogramme starten würde? Sicher, psychotherapeutische und psychologische Studiengänge sind teuer und aufwendig. Aber über diese Form der Unterstützung müsste es keine länglichen Moraldebatten geben wie über Marschflugkörper und Luftabwehrsysteme, und sie würden etwas weiter in die Zukunft schauen als bis zur nächsten Gegenoffensive. Viele der Geflüchteten wollten ihre Heimat nicht verlassen, sie wurden dazu gezwungen. Sie würden gern zurückkehren, ihrem Land helfen, aber nicht an der Waffe und nicht an der Front. Wenn sie eines Tages zurückkehren können, wären sie bereit, einen sinnvollen Beitrag zur Aufarbeitung zu leisten. Und wenn das alles noch lange dauert: Auch hierzulande sind psychotherapeutische Angebote rar. 

Wird das den Konflikt befrieden? Wohl kaum. Ist das die ideale Lösung? Sicherlich auch nicht. Es ist ein pragmatischer Vorschlag. Und wie die Geschichte zeigt, braucht es davon gelegentlich mehr.