Noch müssen Nutzerinnen in den USA kein Verbot von TikTok befürchten. © Louis De Belle/​Connected Archives

270 Tage. So lange haben die Verantwortlichen des chinesischen Unternehmens ByteDance Zeit, den US-amerikanischen Teil ihrer Social-Media-App TikTok zu verkaufen. So will es der US-Kongress, der am Dienstag ein entsprechendes Gesetz verabschiedet hat. Findet ByteDance in den kommenden neun Monaten keinen Käufer, wird TikTok in den USA verboten. Die Plattform würde damit ihren größten und wohl auch wichtigsten Markt mit rund 170 Millionen Nutzerinnen und Nutzern verlieren.

Laut TikTok-Chef Shou Zi Chew wird es so weit nicht kommen. In einer Pressemitteilung und einer Ansprache an die Nutzer versicherte er, dass man "nirgendwo hingehe". TikTok habe die Fakten und die US-Verfassung auf seiner Seite und werde sich vor Gericht gegen das Gesetz wehren.

Dass TikTok das drohende Verbot zunächst hinauszögern und es am Ende sogar erfolgreich abwenden könnte, ist nicht so unwahrscheinlich. Denn der hastig im Zuge eines größeren Hilfsmittelpakets enthaltende Vorstoß des US-Kongresses stellt viele Fragen, die sich nur schwer eindeutig beantworten lassen.

Die Angst vor politischer Einflussnahme

Da wäre die Frage nach den Gründen für den geforderten Verkauf. Der US-Kongress begründet seine Entscheidung zum einen damit, dass TikTok über sein Mutterunternehmen ByteDance Daten von US-Bürgerinnen und Bürgern an die chinesische Regierung weiterleiten könnte. TikTok, das in Singapur registriert ist, hat diese Vorwürfe wiederholt abgestritten. Zudem hat der Dienst in den vergangenen Jahren eine eigene Server-Infrastruktur in den USA aufgebaut, die Daten vor Abflüssen ins Ausland schützen soll. Allerdings gab es in der Vergangenheit Hinweise, dass einige Nutzerdaten doch auf chinesischen Servern landen könnten. Erst vergangene Woche gab es neue Berichte, wonach Insidern zufolge die US-Server des Unternehmens nicht ganz so dicht seien. TikTok nennt die Vorwürfe frei erfunden.

Zum anderen warnt der US-Kongress vor einer möglichen politischen Einflussnahme mithilfe von TikTok und dessen Empfehlungsalgorithmen. Die Plattform steht in der Kritik, bestimmte Inhalte bewusst zu verstärken und andere Stimmen zu marginalisieren. TikTok hat zweifelsfrei die Macht, politische Debatten zu führen und zu fördern. Zudem gibt es immer wieder Kritik an den Moderationsrichtlinien, die von TikTok vorgegeben werden. Aber wird die öffentliche Meinung wirklich von einer zentralen Instanz wie etwa der chinesischen Regierung bewusst manipuliert, um den USA zu schaden? Darauf gibt es zum jetzigen Stand keine eindeutigen Hinweise.

Ein TikTok-Verbot ist schon mehrfach gescheitert

Da wäre die Frage nach der Rechtsstaatlichkeit. Solange sich das Gesetz auf diffuse Ängste und "Was wäre, wenn …?"-Szenarien und nicht auf konkrete Beweise stützt, kann sich TikTok auf das Recht auf freie Meinungsäußerung berufen. "Der Oberste Gerichtshof und die unteren Gerichte haben wiederholt entschieden, dass die bloße Berufung auf die nationale Sicherheit nicht ausreicht, um die Unterdrückung der First-Amendment-Rechte zu rechtfertigen", schrieb der bekannte Anwalt für Bürgerrechte Jameel Jaffer vergangenes Jahr in einem Gastbeitrag in der New York Times.

Die vergangenen Gerichtsentscheidungen sprechen für TikTok: 2020 wollte der damalige US-Präsident Donald Trump die App schon einmal verbieten. TikTok verklagte letztlich die US-Regierung und konnte das Verbot mit einer einstweiligen Verfügung abwenden. Im vergangenen Dezember blockierte ein Richter in Montana ein geplantes Verbot der App innerhalb des Bundesstaates. Verfassungsexperten vermuten, dass TikTok auch diesmal argumentieren könne, dass ein erzwungener Verkauf die Meinungsfreiheit seiner Nutzer einschränkt. In jedem Fall dürfte eine lange juristische Auseinandersetzung folgen, bevor es tatsächlich zu einem Verkauf kommt.

Wer könnte TikTok überhaupt kaufen?

Da wäre die Frage nach dem Käufer. Dieser müsste von der US-Regierung bewilligt werden, aber wohl nicht zwingend aus den USA kommen. Realistisch kommen bei einem geschätzten Kaufpreis von 100 Milliarden US-Dollar aber nur US-amerikanische Firmen infrage, allen voran Big-Tech: Alphabet, Microsoft, Amazon, Apple und Meta. Sie alle hätten wohl die Mittel für einen Kauf, aber dieser dürfte andere, kartellrechtliche Fragen aufwerfen. Schließlich würde dadurch noch mehr Macht über die sozialen Netzwerke in den großen Firmen konsolidiert, die ihrerseits ebenfalls bereits unter Beobachtung des US-Kongresses stehen.

Als TikTok vor vier Jahren der Verkauf drohte, waren noch der Softwarehersteller Oracle und der Handelskonzern Walmart im Spiel. Das Wall Street Journal hatte im März berichtet, dass sich Bobby Kotick, der ehemalige CEO des Spielekonzerns Activison Blizzard, mutmaßlich auf der Suche nach einem Käuferkonsortium befinde, an dem auch OpenAI-Chef Sam Altman beteiligt sein könnte. Bestätigt ist das nicht. Eine weitere Option wären Einzelpersonen als Käufer. In diesem Fall ist ein warnendes Beispiel die Übernahme von Twitter durch Elon Musk, der Twitter in eine Anlaufstelle für politisch Rechte verwandelt hat: Mögliche politische Einflussnahme ist aber genau das, was der US-Kongress mit dem Verkauf eigentlich verhindern möchte.