Als es auf der Tanzfläche eskaliert, steht Stefan ganz ruhig am Rand. Er wippt leicht vor und zurück. Es läuft Musik von Depeche Mode in dem Berliner Nachtclub. Das Wummern der Bässe tönt durch den Raum. Die Tanzenden flippen aus, vereinen sich zu einem großen Körper und schwingen im Takt. Jetzt ist Party. Und wenn Party ist, geht es Stefan gut. Auch wenn er am Rand steht.

Jedes Wochenende eine Party, manchmal auch unter der Woche

Stefan, 43 Jahre alt, trägt heute eine alte Uniform der Nationalen Volksarmee der DDR mit blank geputzten, kniehohen Stiefeln. Sein muskulöser Oberkörper steckt in einem engen weißen Hemd, dazu Hosenträger. Er hat braunes, kurzes Haar und ist recht klein. Stefan tanzt unauffällig, aber mit einem guten Rhythmusgefühl. Bei Frauen kommt er gut an, er merkt es nur nicht. Und er ist zu schüchtern, um jemanden anzusprechen. "Na logo!", hat Stefan aber geantwortet, als ich ihn fragte, ob wir mal wieder zusammen feiern gehen und einen Text über sein Lebensmodell machen können. Nur seinen echten Namen schreibe ich hier nicht auf, weil er nicht möchte, dass jeder Nachbar und jede Arbeitskollegin seine Geschichte lesen kann.

Wir kennen uns seit 15 Jahren, saßen zusammen in einem Politikseminar an der Humboldt-Universität zu Berlin. Schon damals hat er viel gefeiert. Manchmal zogen wir zusammen durch die Clubs: mal ins Berghain, das damals noch nicht der weltberühmte Club war, sondern eine Halle am Berliner Ostbahnhof. Mal ins Rio, einen Club in einer Industriebrache in Mitte, den es längst nicht mehr gibt. Mal in den KitKatClub, wo alles erlaubt ist, wenn's beiden gefällt.

Jedes Wochenende eine Party, manchmal auch unter der Woche. Wenn sich ihm niemand anschloss, ging Stefan dennoch aus, wirbelte über die Tanzflächen wie ein neugieriger Junge über den Rummelplatz.

"Bei kaum einem Job auf der Welt bekommst du die Anerkennung, die du verdient hast."
Stefan, 43, Klamottenverkäufer

Ein gewissenhafter Student war er trotzdem: Er sagte selten etwas laut, aber seine Kommentare, die er mir im Kurs ins Ohr flüsterte, waren so geistreich wie logisch. Sein Studium der Sozialwissenschaften schloss er mit einer Eins ab, die Diplomarbeit schrieb er über die Vereinten Nationen. Damals habe ich gedacht: Er wird sicher mal eine Führungskraft. Stattdessen verkauft Stefan heute Klamotten – und sagt, er sei damit zufrieden. Sein Beruf sei ihm nicht wichtig, was zähle, seien die Wochenenden, an denen er sehr regelmäßig einen Tag durchtanze: "Bei kaum einem Job auf der Welt bekommst du die Anerkennung, die du verdient hast", sagt er. Im Club dagegen bekäme jeder den gleichen Respekt, zumindest wenn man es ernst meine und ehrlich feiern wolle. So sieht es Stefan, der tatsächlich selten mal in einen Laden nicht hineinkommt.

Stefan will keine Karriere machen, obwohl er eine gute Ausbildung hat. Er ist Single, obwohl er großartig aussieht. Das Thema Kinder sei für ihn längst durch, aber das sei auch "völlig in Ordnung". "Ich habe ein erfülltes Leben", sagt Stefan, ihm sei nie langweilig. Ein bisschen trotzig klingt das. Aber nicht wie eine Lüge. 

Wie wichtig sind Beruf und Anerkennung wirklich?

Ich habe nach meinem Studium den Beruf zu meinem Lebensinhalt gemacht, über den ich mich definiere. Da ich zwei Kinder habe, muss ich das auch: in gewissem Sinne Erfolg haben. Bei Stefan ist es anders. Beruf ist ihm egal, Familie hat sich nicht ergeben. Mich fasziniert das. Warum ist er diesen Weg gegangen?

Wie wichtig sind Beruf und Anerkennung wirklich? Kann man sich nicht über anderes viel ehrlicher definieren? Raus aus dem Hamsterrad, rein in das wahre Leben?

Es war mehr als eine Unibekanntschaft zwischen Stefan und mir. Wir waren gut befreundet, wenn wir auch sehr verschieden sind. Nach der Uni zog ich nach Hamburg, Stefan und ich verloren uns ein wenig aus den Augen, hatten immer mal wieder Kontakt an den Geburtstagen. Aber wenn wir uns sahen – und feiern gingen –, war es wieder ein bisschen wie früher.

Das merke ich auch in dem Berliner Club, wo wir heute gelandet sind. Wir stehen am Rande der Tanzfläche und trinken Aperol Spritz.