Wie viel Talent passt in einen Menschen? Mit neun Jahren sang Nemo Hauptrollen in Opern von Mozart und Rossini. Mit 13 war Nemo der heimliche Star in einem Musical von Udo Jürgens, mit 16 die größte Nachwuchshoffnung des Schweizer Rap. Und selbst das Outing als nonbinäre Person im vergangenen Jahr gelang, so scheint es, mit Leichtigkeit.

Ein einziges Interview, in dem Nemo mitteilte: "Ich fühle mich weder als Mann noch als Frau." Fortan war klar: Nemo soll beim Vornamen oder mit dem englischen Pronomen they angesprochen und beschrieben werden. Und jetzt, mit 24 Jahren, ist Nemo die Schweizer Hoffnung am Eurovision Song Contest (ESC), der am 7. Mai in Malmö beginnt. Glaubt man den Onlinevotings und den Quoten der Wettbüros, steht der Star kurz vor dem Sieg. Es wäre der erste für die Schweiz seit 36 Jahren, als Céline Dion mit Ne partez pas sans moi für die Schweiz triumphierte.

Wie schwer die Hoffnungen einer ganzen Fernsehnation auf diesen Schultern lasten, ist Nemo nicht anzusehen, als wir uns in Zürich treffen. Noch bevor die beiden Multifunktionsjacken, die in hartem Kontrast zu den künstlichen Perlmutt-Fingernägeln stehen, ausgezogen sind, lockert Nemo mit einem Spruch die Situation. Und plumpst dann zwischen Fernsehauftritten, Eurovision-Vorveranstaltungen und Botschaftsempfängen für eine halbe Stunde in einer Lounge am Hauptbahnhof in einen Sessel.

Aufgewachsen ist Nemo in der zweisprachigen Kleinstadt Biel mit der jüngeren Schwester Ella Mettler, die, heute 22-jährig, Nemos Styling und Pressefotos verantwortet. Die Eltern führen in Biel eine Kreativagentur, wo die Geschwister viel Zeit verbrachten. Eine riesige, dreistöckige Ideenfabrik sei das gewesen. "Eine Zeit lang stand am Eingang eine Badewanne, gefüllt mit lebendigen Piranhas." Wenn es Nemo in der Kindertagesstätte im Erdgeschoss langweilig wurde, streifte das Kind durchs Gebäude und hielt die Erwachsenen von der Arbeit ab. "Ich zeigte ihnen meine Zeichnungen, improvisierte eine Tanzvorführung, oder wir bastelten einen Papierflieger." Jeden Tag sei das so gegangen. Und nie hatte Nemo das Gefühl zu stören. Ohne Angst vor Ablehnung zeigte das Kind sich und die kreativen Einfälle. Wenn die Eltern zu beschäftigt waren, seien da viele andere Bezugs-personen gewesen, sagt Nemo.

Mit drei Jahren geht Nemo in den Geigenunterricht. Bald kommen Schlagzeug- und Klavierstunden dazu, mit neun Jahren tritt Nemo in den Kinderopern am Theater Orchester Biel Solothurn auf, ist begeistert von Mozart und spielt Papageno in der Zauberflöte. "Die ist so poppig, dass ich einfach Lust hatte, all diese catchy Songs zu singen", sagt Nemo und hebt kurz mit heller Stimme zu einem Part aus dem Vogelfänger an. Sofort sieht man Nemo vor sich, als Kind, das trällernd in Strumpfhosen über die Bühne hüpft.

Noch vor dem Teenageralter folgen erste Castings für Kinderfilme, wo Nemo Statistenrollen übernimmt. "Ich habe alles gemacht, weil ich es wollte, Druck von den Eltern gab es nie." Für eine kleine Rolle im Musical Ich war noch niemals in New York, das auf Liedern von Udo Jürgens basiert, fährt Nemo wochenlang nachmittags nach Zürich und spät abends mit dem letzten Zug zurück nach Biel und sitzt früh morgens wieder in der Schule. Bald ist es der Hip-Hop, der Nemo begeistert – und nicht mehr Udo Jürgens, Mundartfilme und Mozartopern. Vor allem in den frühen, harten Alben des Berliner Gangsta-Rappers Sido findet Nemo einen Ausdruck, eine Wucht, eine Kraft, die zur Inspiration werden. Und bei den Gleichaltrigen gut ankommen. Nemo beginnt eigene Texte zu schreiben, produziert Beats, macht aber keinen Ghetto-Rap wie das damalige Vorbild Sido. Das würde man Nemo, mit Zahnspange und schmächtiger Statur, kaum abnehmen. Zumindest glaubt Nemo das damals – und täuscht sich.

Wenn es eine Kathedrale für den Schweizer Rap gibt, dann ist sie der Bounce Cypher des Radiosenders SRF Virus. Alljährlich messen sich in diesem Rap-Battle-Contest die Besten aus allen Landesteilen. Fast einen ganzen Tag lang, live übertragen im Radio und auf YouTube. 2016 gelingt hier Nemo der Durchbruch als No-Name unter Chartstürmern, Legenden, Nachwuchshoffnungen. Im Video von damals sieht man, wie locker die Stimmung kurz vor Nemos Auftritt ist. Niemand erwartet, was gleich kommt. Dann tritt Nemo, mit Wollmütze und mindestens einen Kopf kleiner als alle anderen, ans Mikrofon. Der Beat droppt, Nemo beginnt zu rappen – und nacheinander fällt den Umstehenden die Kinnlade herunter.